TZIMTZUM (2020-2023)

Tetralogie für Solistenensemble und Orchester

Für das Jahr 2020 erhielt ich einen Kompositionsauftrag vom WDR, ein Stück für das Nikel Ensemble als Solisten mit dem WDR Orchester ohne Streicher zu schreiben (nur Bläser – Holz und Blech – Tasten, Harfen, Perkussion). Eine herausfordernde Besetzung und für mich war die erste Aufgabe, eine eigene Notwendigkeit für diese Kombination zu finden, damit dieser Auftrag im doppelten und nicht einfachen Sinne erfüllt werden konnte. Zu der Zeit begann ich gerade, mich etwas mit jüdischer Mystik beschäftigen, las Texte von Gershom Scholem und anderen. Diese Beschäftigung sollte auch das neue Werk beeinflussen und schnell entstand in mir der Gedanke, dass ich etwas Größeres daraus machen möchte – eine Tetralogie TZIMTZUM, nach kabbalistischen Schöpfungsvorstellungen: I Reshimot (Abdrücke) für die oben genannte Besetzung – II Sh’vira (Zerbrechen) für das Solistenensemble Nikel allein – III K’lipot (Schalen) Solistenensemble und Tutti Orchester – IV Tikkun (Heilung) Solistenensemble, Streicher und Perkussion. Harry Vogt (damals noch Redakteur für Neue Musik im WDR) begrüßte diese Idee – und nicht nur das: er gab auch zwei weitere Werke der Tetralogie in Auftrag, III und IV, für das WDR Orchester, die Tetralogie als Ganzes wurde schließlich im November 2023 vom WDR-Orchester uraufgeführt. So etwas ist ein großes Glück, wenn aus einem anfänglichen Funken etwas Größeres entstehen kann, es Resonanz zu einer künstlerischen Vision gibt, die in diesem Wechselspiel Wirklichkeit werden kann.

Was war vor der Schöpfung? Tzimtzum als Rückzug Gottes in sich selbst, ein Zusammenziehen, eine Kontraktion, Konzentration, um der Schöpfung Raum zu geben und ein “Anderes” (Dingliche) überhaupt erst möglich zu machen. Diese Vorstellung einer schöpferischen Kraft quasi als Negativ hat mich sehr fasziniert.

Der Kontraktion folgt die Emanation des göttlichen Lichts mit unglaublicher Kraft. Die Weltentstehungsvorstellungen der lurianischen Kabbalah gehen dabei von einer Urkatastrophe aus – Sh’virat hakelim – dem „Zerbrechen der Gefäße“, die das göttliche Licht halten sollten. Scherben und Funken des Lichts sanken zu Boden in die materielle Welt. Die göttlichen Funken brachten Lebenskräfte in die Welt, zugleich ist das Zerbrechen der Gefäße auch Grund für die Hervorbringung des Bösen, (so trägt jede Seele das Gute und das Böse in sich), wie auch dadurch die freie Willensentscheidung ermöglicht wird. Tikkun (Heilung oder Reparatur) bedeutet „die Funken einzusammeln“, Handlungen auszuführen, die den Makel aus der Welt tilgen, die Folgen der Urkatastrophe auslöschen und dazu beitragen, dass die Trennung Gottes von der Sh’china aufgehoben wird und so die Sh’china, die Herrlichkeit Gottes auf die Welt zurückkehrt. Im täglichen jüdischen Schlussgebet Alenu taucht die Formulierung „letakken olam“ als Ausdruck messianischer Hoffnung auf – תיקון עולם Tikkun olam bedeutet Heilung oder Reparatur der Welt und gilt als wichtiges ethisches Prinzip im Judentum. (Angesichts der Weltlage wäre eine Besinnung darauf umso dringlicher.)

Der gesamte Zyklus TZIMTZUM (2020-2023) wurde am 12. November 2023 beim Festival Essen NOW! in der Philharmonie Essen mit dem Nikel Ensemble (Yaron Deutsch, E-Gitarre, Patrick Stadler, Saxophone, Antoine Francoise, Keyboard und Brian Archinal, Drumset), dem WDR Orchester unter Leitung von Peter Rundel uraufgeführt. Für 2025 ist eine CD der Tetralogie beim Lable Bastille Music geplant. Besonderer Dank an dieser Stelle an das großartige Nikel Ensemble, stets Quelle der Inspiration, an Peter Rundel, das WDR Orchester, an Harry Vogt und Patrick Hahn (WDR) für die Unterstützung und Begleitung, sowie an Sebastian Stein und das ganze Team .

TZIMTZUM

I. RESHIMOT (2020)
für Solistenensemble (Altsaxophon, E-Gitarre, Keyboard und Drumset) und Orchester (4.3.4.3/4.3.3.1/3 Perk/Pauke/2 Hrf/Pno/0 Str!) – UA: 8.4.2022, WDR Köln; Nikel Ensemble, WDR Orchester, Ltg: Titus Engel – ca. 17′

Reshimot (Abdrücke) ist der erste Teil der Tetralogie, ist jedoch nicht gleichzusetzen mit dem Beginn, sondern ist sozusagen eine Art Abdruck der Urkatastrophe, genauer sind Reshimot die Abdrücke, die Eingravierungen, gleichsam die Erinnerungen an das göttliche Licht, das in den Gefäßen war. Diese Erinnerungen sind Grund und Keim dafür, dass eine Heilung überhaupt je möglich ist.

Die Vorstellung von Abdrücken von Licht scheint paradox (Ausbleichen? Gravur? Abdruck hat normalerweise Gewicht, welches Gewicht hat das Licht? etc.). In meiner Komposition habe ich versucht, klangliche Abdrücke zu kreieren – Klänge hinterlassen Spuren, Gravuren, Resonanzen, sie zerbrechen auch – wie die Gefäße; ab und an finden sich Spuren, Erinnerungen von Licht.

II. SH’VIRA (2020) für Sopransaxofon, E Gitarre, Keyboard und Drumset – Teil II der Tetralogie „TZIMTZUM“ (2020-2023 für Solistenensmeble und Orchester)

Sh’virat hakelim – das „Zerbrechen der Gefäße“, die das göttliche Licht halten sollten. Zerbrechen, Bersten, Scherben und Funken des Lichts. Energie als Quelle der Schöpfung, in unbändiger Kraft bis zur Zerstörung. Das Werk bewegt sich zwischen diesen Extremen, die Zahl 10 hat eine ordnende Funktion. Sh’vira ist für das Nikel Ensemble geschrieben und ihm gewidmet.

III. TIKKUN (2021) für Streichorchester und Perkussion mit Zuspiel und Solistenensemble (Saxophon, E-Gitarre, Keyboard und Drumset) ad libitum – UA: Version ohne Solisten (nur Streichorchester und Perkussion)  Oktober 2021, WDR Orchester – UA Version mit Solisten Januar 2022 Ensemble Resonanz und Ensemble Nikel, Elbphilharmonie Hamburg – ca. 16′

Tikkun, hebräisch für Festigung, Heilung oder Reparatur – תיקון עולם Tikkun olam bedeutet Heilung oder Reparatur der Welt und gilt als wichtiges ethisches Prinzip im Judentum, als eine wesentliche Aufgabe des Menschen: er soll zur Verbesserung des Zustands der Welt beitragen.

Im Mittelalter erhielt dieses Prinzip mit der Kabbalah weitere Bedeutungen und mystische Auslegungen. Die Weltentstehungsvorstellungen der lurianischen Kabbalah gehen von einer Urkatastrophe aus – Sh’virat hakelim – dem „Zerbrechen der Gefäße“, die das göttliche Licht halten sollten. Scherben und Funken des Lichts sanken zu Boden in die materielle Welt. Die göttlichen Funken brachten Lebenskräfte in die Welt, zugleich ist das Zerbrechen der Gefäße auch Grund für die Hervorbringung des Bösen, (so trägt jede Seele das Gute und das Böse in sich), wie auch dadurch die freie Willensentscheidung ermöglicht wird. Tikkun bedeutet „die Funken einzusammeln“, Handlungen auszuführen, die den Makel aus der Welt tilgen, die Folgen der Urkatastrophe auslöschen und so dazu beitragen, dass die Trennung Gottes von der Sh’china aufgehoben wird und so die Sh’china, die Herrlichkeit Gottes auf die Welt zurückkehrt. Jenseits der Mythen und religiöser Ideen kann Tikkun olam modern und praktisch, ganz aktuell und akut aufgefasst werden. Ist es nicht die Aufgabe eines und einer jeden Einzelnen, die vielen “Risse” in der Welt zu kitten und etwas zur Reparatur beizutragen?

Eine musikalische Näherung an Tikkun ist eine Unmöglichkeit: Man könnte ins Kitschige abdriften oder lediglich Stille präsentieren. Ich habe versucht, bestimmten Prinzipien nachzuspüren, so werden Klänge „eingesammelt“ und dabei bin ich für mich zu einer gewissen Essenz gekommen. Die Streicher beginnen Tikkun, indem die Spieler und Spielerinnen nur die Finger auf dem Griffbrett bewegen, ein ganz leises Geräusch, kaum wahrnehmbar, fast wie Regen, ein imaginierter Klang, schließlich kommt der Bogen hinzu, der Ton entsteht (eine erste „Heilung“?).

Tikkun kann in verschiedenen Versionen aufgeführt werden: nur Streicher und Perkussion, in einer Kurzversion (entstanden für die Reihe „Miniaturen der Zeit“ des WDR) oder länger, mit Solistenensemble. Am Ende gibt es zwei Varianten: das Stück kann in Ruhe beendet oder mit einem Tanz beschlossen werden.


IV. K’LIPOT (2023) für Solistenensemble (Sax/E-Git/Keyb/Drums) und großes Orchester (4.3.4.3/4.3.3.1/3 Perc mind./Timp/2Hrf/Pno+Cel/Str) – UA: 10. November 2023, Nikel ensemble, WDR orchestra, Peter Rundel, Philharmonie Köln – ca. 24′

K’lipot (hebr. קליפה klipah ‚Schale‘, ‚Hülle‘, plural קליפות  k’lipoth Schalen oder Hüllen) sind metaphorische verhüllende Schalen um die Funken des göttlichen Urlichts. Sie verhindern bzw. verhüllen die göttliche Lichtemanation und zeigen sich im menschlichen Verhalten (als „unreine geistige Kräfte“, „moralisch falsches oder schwaches Verhalten“ usw.). Diese Schalen verhüllen das Licht, verbergen es, zugleich schützen und bewahren sie es aber auch, das scheint paradox, aber es ist nicht nur negativ zu sehen. In der lurianischen Kabbala werden die K‘lipot als die Scherben der Lichtgefäße, die dem göttlichen Urlicht nicht standhalten konnten gesehen, diese Scherben blieben quasi in der Welt, sind spirituelle Hindernisse. Die K‘lipot sind auch unsere Aufgaben im Leben, stehen dafür, was es zu überwinden gilt – für jede*n Einzelne*n. (Für ein besseres Selbst und eine bessere Welt, so wohnt jeder Seele das Gute und das Böse inne, möge man sich für das Gute entscheiden, das ist Arbeit, ein Prozess).

Die Komposition K’lipot bildet den in Besetzung und Länge größten Teil der Tetralogie „TZIMTZUM“ für Solistenensemble und Orchester. Kompositorisch haben alle vier Teile einen eigenen Charakter, eine eigene Klanglichkeit, Farbe, zugleich aber musikalisch viel verbindendes Material, musikalische Gedanken, die verwandelt immer wieder auftauchen – wie sie auch inhaltlich miteinander verknüpft sind. So trägt jeder Teil, jeder Zustand Spuren oder Ahnungen der anderen Zustände in sich. Dramaturgisch/formal ist K’lipot jedoch deutlich anders aufgebaut als die anderen drei Teile – wobei die anderen drei sich natürlich auch unterscheiden: Reshimot eröffnet und schließt zugleich einen Kreis, Sh’vira zeigt (zehn) verschiedene Sphären oder Perspektiven von Gefäßen (Halt) und Zerbrechen, Tikkun beginnt mit einer zunächst zaghaften, dann zärtlichen Berührung, führt über verschlungene Pfade schließlich hin zu einem Tanz –  K’lipot ist formal Ausdruck einer Sisyphosarbeit, es beginnt quasi immer wieder, der Versuch, die Schalen zu durchdringen, nimmt kein Ende – Versuch (mitunter Kampf), Entgleiten, Zerbröckeln, wieder neu – und doch verändert sich alles Stück für Stück und andere Räume werden durchschritten. Die Makroform des Gesamtzyklus zeigt sich als “Abdruck” in K’lipot. Es beginnt mit der Vorstellung von zerbrochenem Licht. Dabei geht es musikalisch auch um Schichten, so mag eine Schicht eine andere mitunter verhüllen, die dann doch offengelegt wird, eine andere versinkt, blitzt nochmals hervor usw. (Das betrifft auch das Verhältnis von Solistenensemble und Orchester, aber auch Orchestergruppen untereinander wie auch einzelne Soli.) Über eine längere Zeit liegen mehrere Schichten “zerbrochenen” Lichts übereinander, ein Puls manifestiert sich, um schließlich in eine Art Abgrund zu kippen. Nach einer Art Kulmination findet sich auch hier ein Moment der Heilung, zugleich der eigentliche TZIMTZUM-Moment. Das Glas fängt an zu singen. Konzentration und Fokus. In einem Solo der E-Gitarre wird eine Balance zwischen den Schwebungen (Stimmungssystemen, 3 Saiten sind mikrotonal verstimmt) gesucht. Aber es hält nicht, der Teil K’lipot bleibt zwangsläufig „unvollkommen“, hat keinen Endpunkt, bzw. nur einen, der weiter unterwegs ist, das Stück fährt gewissermaßen gegen die Wand. Alles ein Schwanken zwischen Mut und Mutlosigkeit, Resignation und Hoffnung. Ursprünglich als 3. Teil der Tetralogie geplant, steht K’lipot nun am Ende des Zyklus‘ (und Tikkun als Utopie an dritter Stelle im Zyklus) – das Ende als Aufgabe an uns (angesichts der Weltlage angemessener; Tikkun, die Heilung scheint sehr fern momentan…).

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REVIEW/INFO RICORDI

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