Ein Film von Shmuel Hoffman & Anton von Heiseler

mit einer Komposition von Sarah Nemtsov für Keyboard solo (mit verstärktem Klavier und Stimme)

Uraufführung: am 18.1.2020 um 17h im Berliner Radialsystem – mit Christoph Grund, Keyboard/Klavier – im Rahmen des Festivals Ultraschall Berlin – Dauer ca. 24 Minuten

STATEMENTS

Kommentar von Sarah Nemtsov (Komponistin):

“Mountain & Maiden” ist ein Film von Anton von Heiseler & Shmuel Hoffman. Eine Art experimenteller Dokumentarfilm über ein zehnjähriges Mädchen, Aaspiya, das in Neu-Delhi (Indien) nahe der Müllhalde lebt. Das Mädchen geht nicht zur Schule, es sammelt Müll. Aber Aaspiya scheint trotzdem ein vergnügtes Kind zu sein, hellwach und gescheit. Wie Musik dazu (er)finden? Mir schwebt ein Stummfilm im 21. Jahrhundert vor. Der Film hat keinerlei eigenen Sound. Statt Stummfilmpianist haben wir hier einen Stummfilm-Keyboarder (mit etwas verstärktem Klavier). Für das Keyboard habe ich entsprechend der 88 Tasten 88 Samples kreiert: zum Teil sind es Bearbeitungen der O-Töne, die ich von den Filmemachern erhielt, zum Teil elektronische Sounds, field recordings, neue Aufnahmen oder verfremdete Netzfunde. Die Klänge werden zum Film eingespielt, mal ergänzend, aber auch kontrastierend und verschachtelt mit dem Konzertflügel (inklusive einiger Schubert-Anklänge – worauf auch der Titel anspielt: „Death and the Maiden“/Der Tod und das Mädchen).

Alle “illustrierenden” Sounds sind eigentlich Illusion, denn es gibt keine “echte” Soundspur zum Dokumentarfilm. Die Klänge sind stets verfremdet, musikalisiert; die Momente, die “frame-genau” ein Bild begleiten (etwa ein Streichholz), sind hier aufgenommen oder werden durch andere gebrochen. Knistern von Feuer – brennender Berg aus Plastikmüll oder Vinyl? Der Klang eines Wasserhahns in Indien wird vom Weißen Rauschen, das aus unseren Wasserhähnen strömt, ausgelöscht. Die kreisenden Vögel über der Müllhalde haben Tinnitus-ähnliche Frequenzen in ihren Rufen, die den Samples hinzugefügt werden. Eine langsame Kamerafahrt über den Müll wird von einer strengen Fuge für Sample-Keyboard begleitet, bei der schließlich auch alle Klänge durcheinander wirbeln.

Eine spezielle Virtuosität ist gefordert, der Pianist springt hin und her zwischen den Tastaturen und muss dabei immer das Bild im Blick haben und sporadisch auch noch Auszüge aus einem Interview mit dem Mädchen einbringen und diese simultan übersetzen. Das ist natürlich absurd. Das Ganze ist absurd – ein Konzertflügel vor der Müllhalde. Ein Berg von Tastaturen. Wir sehen im Film mitunter poetische Bilder, menschliche Silhouetten, besonderes Licht, neblige Gase, tatsächlich ist dieser Dunst reines Gift, die Menschen dort gehen ohne jeden Schutz. 40% der Kinder leiden an Atemwegserkrankungen. Das Trinkwasser ist verseucht. Gewissermaßen landet auch unser Müll auf diesen Müllkippen – und auch unsere Verantwortung.

Vom Festival Ultraschall Berlin hatte ich den Kompositionsauftrag für ein Klavier-Solo-Werk (für den Pianisten Christoph Grund) erhalten. Es ist nun etwas Anderes geworden, ein künstlerisches Wagnis. Ich hoffe, dass wir mit diesem Projekt etwas sensibilisieren können.

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Statement von Anton von Heiseler (Director/Berlin):

Im Südwesten von Delhi, am Rande der Stadt, liegt der kleine Ort Bhalaswa. Es ist die letzte Station von der Metro „Jahangirpuri“: Hier stinkt es. Nur wenige Kilometer weiter steht ein 30 Meter hoher Berg aus Abfall direkt neben einem Highway.    

Katharina Michalsky und ich waren 2014-2015 in den Megacitys Indiens auf Recherchereise. Der Plan war, mit der indischen Eisenbahn die gesamte Küste Indiens zu umrunden und jeweils einige Tage an einem Ort zu bleiben, um die Menschen zu beobachten und Themen und Geschichten zu finden. Aus dem Zugfenster und im Zug war Müll allgegenwärtig. Schließlich kamen wir nach Delhi, Indiens Hauptstadt und fanden dort durch Zufall am süd-westlichen Rande den kleinen Ort Bhalaswa. Inmitten Bhalaswas liegt ein großer, rauchender Müllberg, vor dem Kinder in der untergehenden Sonne spielten. Als wir dieses Bild durch die Kamera sahen, wussten wir, dass wir darüber einen Film machen möchten. Wir wussten noch nichts von der Grundwasser-Kontamination, der Zwangsumsiedlung von Slum Bewohnern aus der Innenstadt nach Bhalaswa direkt neben den Müllberg und kannten die verrückte Welt noch nicht, die einem auf dem Müllberg begegnet. Wir sahen bloß ein paradoxes romantisches Bild: ein warmer Sonnenuntergang, ein Berg, spielende Kinder, kleine selbst gebaute Häuser und eine blau angemalte Pipeline neben einem kleinen See und wussten: das ist die Geschichte, die wir erzählen möchten.      

Wir haben dann einen Film über die Menschen, die auf der Müllhalde arbeiten, begonnen. Damals filmten wir zum ersten Mal das Mädchen Aasma. Sie war 16. Ein Jahr später wollten wir Aasma weiter begleiten, doch sie war verschwunden. Sie wurde in ein Dorf verheiratet und hat nun schon ein Kind.   

2018 bin ich in die USA gereist und habe mit Shmuel Hoffman, einem amerikanisch-israelischen Filmproduzenten und Regisseur, angefangen an dem zweiten Teil des “Black Mountains” zu arbeiten. Ich bin mit Shmuel nach New Delhi zurückgegangen und durch Zufall haben wir angefangen, Aaspiyas Alltag zu begleiten. Uns wurde schließlich klar, dass sie die kleine Schwester von Aasma ist. “Mountain & Maiden” ist ein im Verhältnis gesehen kleiner Ausschnitt eines Langzeitprojektes. Hier schauen wir Aaspiya bei ihrem Alltag zu. Es ist ein wortloses Zuschauen auf eine Realität, die wie eine Fiktion wirkt.

Das Team hinter der Langzeitbegleitung des schwarzen Berges wird 2020 wiederum Aasma in ihrem Alltag auf dem Land begleiten.

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Statement von Shmuel Hoffman (Director/New York):

In 2018, Anton came to the USA in order to work with us on some commercial and documentary films. He showed me his first film from India “Black Mountain” and I was ecstatic. After we tossed around a few ideas, he asked me if I wanted to get involved and co-produce the second part of this trilogy. 

So, we traveled in December 2018 to New Delhi, and we wanted to visit Aasma, the protagonist of “Black Mountain”, the first film. But Aasma was long gone since she married and moved to the countryside. Her little sister Aaspiya, 10, and her younger brother were still left home with their parents in a tiny, one-room shanty at the foot of the black mountain. We filmed a few scenes in that shack, and we knew we had the next story.

A ten-year-old girl living in really difficult circumstances, deprived of going to school. She has to work in the landfill collecting trash in order to support her family. Despite her circumstances, she seems to be a curious, upbeat and full-of-life child.

The “Black Mountain”, Anton’s first film on the subject, was about the suffering, the people, and the rape of the environment. “Mountain & Maiden” is about a girl living WITH the mountain. That mountain that gives life and sustenance and brings death at the same time.

Sound and music are an integral part of every film. But with “Mountain & Maiden” we wanted to find a different path other than just illustrating pictures with sound.

I always had in the back of my mind Sarah’s amazing musical work, and always wanted to collaborate with her. So, I approached her and asked if she would be interested in writing music for this film.

And she came up with a stunning idea:

Sarah had already agreed on writing a composition for the Ultraschall Berlin festival, and we decided that our film and her composition would become ONE piece. A musical composition WITH a film.

We went and set out to create not just a film, but a film and composition at the same time that neither can live without. And yet each of them are separate incarnations that tell the same story.

We wanted this to be a piece with nowness, that can be only played as a life performance. Like in the silent era when films were musically illustrated live. And the idea was born to create a musical piece for keyboard and piano solo and film. 

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Probenfoto, 18.1.2020, Radialsystem Berlin, Christoph Grund
film stills copyright Shmuel Hoffman & Anton von Heiseler


Aufsatz von Eckhard Weber für das Festival Ultraschall Berlin: