Programmtext

nach dem Fragment des „Andante“ (2. Satz) aus dem Streichquartett c-moll D 703 von Franz Schubert

Die Komposition setzt sich mit der Musik Schuberts, speziell dem Fragment des 2. Satzes aus seinem Streichquartett c-moll, sowie mit dem Fragment-Begriff generell auseinander. Bereits 2002 habe ich mich kompositorisch mit einem Fragment Schuberts beschäftigt: dem Lied „Johanna Sebus“. Damals entschied ich mich für einen radikalen Bruch zwischen den musikalischen Sprachen – was an der „Schnittstelle“ mit gesprochenen statt gesungenen Worten verdeutlicht wurde. Mit „Im Andenken“ ging ich einen anderen Weg. Zum einen wollte ich einen möglichst fließenden Übergang zwischen den verschiedenen musikalischen Sphären schaffen. Es gibt also einen Teil, der gewissermaßen als „Brücke“ fungiert. Zum anderen habe ich mich in meiner Musik (wenn auch nicht immer offensichtlich) fast durchgängig auf Schubert bezogen. Voraussetzung dafür war u. a. eine intensive Beschäftigung mit seinen Kompositionen – insbesondere seine Kammermusik studierte ich genau.

Das Bezugnehmen bestand dann etwa darin, dass ich Schuberts allgemeine kompositorische Prinzipien, sowie die in dem Fragment angelegten Elemente abstrahierte, um sie als Bausteine für mein eigenes Schreiben zu verwenden. Ab der Stelle innerhalb meines Quartetts, an der ich sozusagen „bei mir angekommen“ war, ließ ich untergründig eine von Schubert verwendete Form laufen: die nachfolgende Entwicklung stützt sich auf den formalen Aufbau des Durchführungsteils, bzw. B-Teils – bis hin zur Reprise – aus dem „Andante un poco moto“ (2. Satz) des Streichquartetts G-Dur D 887. Auf diese subkutane Form verweise ich strukturell, mitunter inhaltlich, stärker oder schwächer. Die Musik begegnet diesem Leitfaden, reagiert, konterkariert ihn, kann ihn in Auszügen zitieren und ebenso ignorieren. Überhaupt geht es auch um die Thematisierung von Nähe und Ferne: es ist doch so, dass die Musik Schuberts uns heute als das Vertraute erscheint, wenngleich sie mit ihrem historischen Kontext weit entfernt von uns sein müsste und vielmehr das Zeitgenössische, das Aktuelle Nähe aufweisen sollte. (Gleichzeitig werden bekanntlich die Meister ob der „Zeitlosigkeit“ ihrer Werke als solche gerufen.) Zuletzt erklingt daher der Beginn des Schubertschen Fragments „con sordino“ und fast doppelt so langsam gespielt – der Zeit entrückt, von Ferne.

Die Komposition ist im Auftrag der Musiktage Hitzacker 2007 entstanden und wurde am 14.6.2008 durch das Nomos-Quartett in Hannover uraufgeführt.

Presse
Hannoversche Allgemeine
16.6.2008 Es gibt Momente in der Musik, da hat man das Gefühl, etwas zu erleben, das sich mit Worten nicht beschreiben lässt. Transzendenz nennen das manche. Andere würden bescheidener sagen, sie sind tief in ihrer Seele berührt. Beim zweiten Konzert des Nomos-Quartetts „von Ferne und Nähe“ im hannoverschen Pelikansaal ereignete sich einer dieser Glücksmomente am Ende von Sarah Nemtsovs uraufgeführtem Streichquartett „Im Andenken“.
Zart, zerbrechlich, in einem Piano an der Grenze des Wahrnehmbaren erklang der Beginn von Schuberts Andante-Fragment aus dem Streichquartett c-Moll D 703. Mit Dämpfer gespielt und fast doppelt so langsam notiert wie im Original wirkte es, als kämen die Töne aus einer anderen Welt. Eng verflocht die 1980 geborene Sarah Nemtsov das romantische Fragment mit ihrer eigenen modernen Musiksprache. Musik aus Schuberts Streichquartettfragment hatte die Komponistin, die bis 2005 an der hannoverschen Musikhochschule bei Johannes Schöllhorn lernte und jetzt in Berlin Meisterschüler bei Walter Zimmermann ist, schon an den Anfang ihres Quartetts gestellt. Aus der Formensprache des Romantikers abstrahierte sie die Elemente für ihren sinnlichen, lyrisch anmutenden Mittelteil: eine mit zeitgenössischen Mittel erzeugte berührende Seelenmusik. […]
Jutta Rinas