Oper in 12 Bildern von Sarah Nemtsov

für 12 Solostimmen, Chor, Orchester und Elektronik

zu einem Libretto von Mirko Bonné

UA 13. Mai 2023 Saarländisches Staatstheater Saarbrücken

– Programmtext von Sarah Nemtsov –

Die Oper OPHELIA basiert auf dem Schauspiel Hamlet (1602) von William Shakespeare. Der Fokus der Oper liegt allerdings nicht auf Hamlet, sondern (wie der Titel schon sagt) auf Ophelia.

Etwa 2019 trat das Saarländische Staatstheater (unter der Intendanz von Bodo Busse) an mich heran mit dem Vorschlag, eine Shakespeare-Oper zu komponieren (als Fortführung des über mehrere Spielzeiten wachsenden Shakespeare-Zyklus‘ am Theater dort). Daniela Brendel, Managerin für Musiktheater bei meinem Verlag Ricordi Berlin, meinte zu mir, dass vielleicht die Rolle der Ophelia interessant sein könnte für meine Oper – und in der Tat: es machte sofort „Klick“, denn über den Umgang mit dieser Figur hatte ich mich immer sehr geärgert! Ophelia wird im Verlauf des Shakespeare-Dramas manipuliert, benutzt, missbraucht, fremdbestimmt, sie wird übergangen und nicht ernst genommen (trotz ihrer Intelligenz) – und am Ende, als sie zu dichten und zu singen beginnt, wird sie für verrückt erklärt. So wird ihr zuletzt sogar die Selbstbestimmtheit im Tod (sei es nun ein Unfall oder ein Suizid) genommen. Sie wird romantisiert, erotisiert, ist Objekt der Begierde, Projektionsfläche, Spiegel und Spielball. Das erinnert an zu viele Frauenschicksale der letzten Jahrhunderte und so hatte ich den dringenden Wunsch, dass Ophelia in dieser Oper aussteigt, sich befreit. Entstanden ist eine Oper in 12 Bildern (mit elektronischen Interludien) für 12 Solostimmen, Chor, Orchester und Elektronik.

Für das Libretto fragte ich den Autor, Dichter und Übersetzer Mirko Bonné. Schon mehrfach hatte ich mit ihm zusammengearbeitet und Gedichte von ihm vertont. Ich schätze seine Sprache außerordentlich, sie lässt einen besonderen Raum für Klang. Als Übersetzer hat Mirko Bonné u. a. den gesamten Keats übertragen (preisgekrönt – zurecht – eine große Leistung). Mirko Bonné schien ideal für diese neue Übertragung und Verwandlung von Shakespeares Drama. Was damit geschehen solle, ließ ich allerdings offen, ich hatte nur einen Wunsch: Es sollte vier Ophelias geben und wenigstens eine sollte überleben! Der Entstehungsprozess war von gegenseitigem Respekt und Raumlassen geprägt, zugleich waren wir auch im Austausch und bestimmte Wünsche und Modifikationen entstanden noch mit dem Komponieren. Mitunter wurde aus musikalisch-dramaturgischen Gründen etwas Text gestrichen oder geschichtet, gestrichener Text floss dann aber indirekt in die Musik ein, in jedem Fall waren auch diese Textstellen bedeutsam für die Partitur.

Mirko Bonnés Libretto (in Versen und Reimen) setzt am Ende von Shakespeares Drama an. Alle sind schon tot – es gibt nur drei Überlebende: Ophelia (1), Horatio und Fortingbras. Die Toten aber finden keine Ruhe, sind Geister, auf der Schwelle, in einer Zwischenwelt, unversöhnt mit ihrem Leben, ihrem Tod und unversöhnt miteinander. Sie bilden das Toten-Ensemble: Hamlet, Gertrude, Claudius, Polonius, Laertes, Rosenstern (der Name ein wunderbarer Zwitter aus Rosencrantz und Guildenstern), die drei weiteren Ophelias sowie der Graue König, Hamlet Vater, der „Obergeist“ sozusagen. Ruhelos sind sie im Disput. Die Dialoge kippen zuweilen ins Komische bzw. Tragikomische. Noch immer streiten sie über Schuld, beschwören Vergangenes, sind verzehrt von Rache, Scham, Schuldgefühlen, Schmerz und Sehnsucht, würden einander fast noch einmal umbringen. Ihr Gesang ist entsprechend aufgewühlt, polyphon, dennoch bleiben sie Solist*innen in der Gruppe, Individuen, Charaktere – (zu) nah am Leben. Dadurch ist der Gesang dieser Gruppe auch unterschieden vom Großen Schattenchor. Der Schattenchor ist gebildet von Toten, die bereits viel weiter entfernt sind, Ahnen, schon lange tot, vielleicht fast vergessen, aber dennoch zu spüren. Eine quasi unbestimmte, fast unbekannte Masse, etwas unheimlich, aber auch tröstend, der Gesang mehr homophon, dunkel, mitunter glimmend, aus der Tiefe der Zeit. Der Schattenchor ist wie ein Magnet oder ein Schwarzes Loch, das die anderen Geister (und manchmal auch die Lebenden) anzieht und schließlich so im 10. Bild auch das Totenensemble „verschluckt“, in sich aufnimmt. In den Akkorden des Chors suchte ich dabei im Schatten ein Leuchten. Die Harmonien des Chors sind zuversichtlicher als die übrigen.

Das Totenensemble ist eine heterogene Gruppe; sie besteht gewissermaßen aus lauter Außenseitern. Der Graue König ist ein Schauspieler ohne Sprache, er wird von vier Männerstimmen gesungen (als Referenz zu den vier Ophelias), Prinz Hamlet ist ebenfalls ein Schauspieler (Hamlet: die Paraderolle!), aber verloren in der Oper: er kann nicht singen. Gertrude ein hoher Koloratursopran, für mich eine besonders interessante Rolle: die innerlich zerrissene Mutter (und wer hat je gefragt, was für ein Mensch der König Hamlet war, der ermordete Ehemann…). Es gibt weitere hohe Stimmen: so auch Laertes (als sogenannte „Hosenrolle“ in klanglicher Nähe zu Ophelia, der zu viel geliebten Schwester) und Rosenstern (Countertenor) nicht nur auf der Schwelle zwischen Leben und Tod, sondern auch auf der Schwelle der Stimme selbst und auf der Schwelle zum Publikum. Claudius dröhnt (dabei eigentlich gar nicht allzu unsympathisch) und Polonius (als tragische Figur) bellt, beide versuchen ihre Unsicherheit und moralischen Abgründe zu überdecken. Horatio ist eine der wenigen integren Figuren, vielleicht hat ihn das vor dem Tod bewahrt, wahrhaft liebend; der junge Fortingbras ist ein Junge im Stimmbruch, an der Schwelle zwischen Kind und Mann, Hoffnungsträger und Symbol für die Zukunft.

Warum vier Ophelias? Die Zahl vier: man kann an die Urmütter im Judentum denken (Sarah, Rivka, Rachel und Leah). Ich dachte aber auch an vier Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts, die mir sehr wichtig sind: Virginia Woolf, Sylvia Plath, Anne Sexton und Janet Frame. (Janet Frame entging dem Suizid und zog sich gewissermaßen selbst aus der Tiefe heraus.) Überhaupt wollte ich mit dieser Oper auch ein Tribut den Frauen zollen, die in den letzten Jahrhunderten dafür gekämpft haben, Opfer gebracht haben und so mutig waren, damit die Situation für Frauen heute (wenn auch noch immer nicht ideal, aber dennoch eindeutig) besser ist. Ich möchte mich als Frau im 21. Jahrhundert bei diesen Frauen bedanken.

Die Geschichte von Ophelias Selbstrettung bzw. Selbstbefreiung wird nicht linear an der Oberfläche erzählt, sondern entwickelt sich eher subkutan. Die Möglichkeit der Befreiung ergibt sich nicht zuletzt durch die Vergegenwärtigung der eigenen Lage(n) der anderen drei Ophelias, die man als drei verschiedene Frauen (symbolhaft für viele Frauen aus vielen Jahrhunderten), aber auch als schillernde Facetten eines Ichs empfinden kann. Es geht um Selbstermächtigung (nicht um Rache o.ä.). Mit dem Ende des 10. Bilds löst das Totenensemble sich schließlich auf, die Geister werden zu Schatten, zu Nebel (fast nichts) und mit dem 11. Bild ist Ophelia allein, befreit von allem und allen und endlich bei sich. Das Vergangene wird losgelassen, wenngleich nicht vergessen, aber Ophelia ist im Jetzt, offen für das Kommende. Hier klingt nichts außer ihr selbst. Und ihre Stimme darf endlich alle Farben zeigen, die dunkelsten und die lichtesten, zarte und starke. Selbst das Orchester wird nicht gebraucht. Und kein*e Dirigent*in. Diesen Befreiungsakt kann man durchaus feministisch, emanzipatorisch lesen, zugleich bedeutete es für mich mehr – beyond gender – Empowerment für die verlorene bzw. verschüttete bzw. unterdrückte eigene Stimme, für das Randständige, Abwegige … für Wahrhaftigkeit und Authentizität (im Bewusstsein, dass 100% Authentizität utopisch wäre), für Mut zur Verletzlichkeit und Empathie. Hieraus erwächst letztlich die Chance zu einer wahren Begegnung.

links: Max Dollinger (Horatio); in der Mitte: Pauliina Linnosaari (Dritte Ophelia), Valda Wilson (Erste Ophelia), Judith Braun (Vierte Ophelia) und Bettina Maria Bauer (Zweite Ophelia) | Foto: Martin Kaufhold

Das Bild der Schwelle könnte sogar für die gesamte Oper gelten, sie muss nicht so interpretiert werden, aber es ist eine Möglichkeit: als Nahtoderfahrung. Alles spielt sich allein in Ophelias Kopf ab – wie in Beschreibungen aus Nahtoderfahrungen, wenn der Geist sich vom Körper löst und in diesem Schwebezustand die Vergangenheit wie im Zeitraffer vorüberzieht – am Ende hievt Ophelia sich selbst aus dieser Zwischenwelt heraus, zieht sich aus dem Wasser.

Diesen Aspekt habe ich auch versucht, musikalisch abzubilden, indem ich das Totenensemble zwar als eine Gruppe von verschiedenen Charakteren klar definiert habe, zugleich kompositorisch bestimmtes Material durch alle Stimmen geschickt habe, wie einen roten Faden, sodass die Gesänge wie ein Gedankenfaden aus einem Kopf hervorgehen könnten. Dabei sind gewisse Koloraturen und Ornamentik Verweise auf die Entstehungszeit des Dramas Hamlet, sowie auf die Entstehungszeit der Gattung Barockoper. Das Drama und die Charaktere haben eine lange Geschichte, ebenso reichen die Themen weit in die Zeit zurück.

Der Schattenchor wurde mit 3D-Technik für die elektronischen Zwischenspiele aufgenommen, diese tauchen zwischen den zwölf Bildern auf, rahmen diese – verbinden sie und grenzen sie zugleich ab. Collagen im Raum von (Geister-)Stimmen (unerwartet nah), Geräuschen, field recordings, elektronischen Sounds u. a. – alles für 3D programmiert, um ein immersives Sounderlebnis für das Publikum zu kreieren.

Das Orchester im Graben erweitert das Ganze um eine zusätzliche Dimension. Zum einen wird den Farben der „Handlung“ nachgespürt, zum anderen ist das Orchester selbst Charakter, Solist oder Ensemble, es kann die Stimmen stützen, ihnen Raum geben, Tiefe, sie kommentieren, aber ihnen auch widersprechen und manchmal sie gleichsam verschlucken oder überspülen. Auch hier werden verschiedene historische Zeiten verknüpft: im Orchester findet sich ein Cembalo (klanglich verfremdet), ebenso wie ein Keyboard und Synthesizer als Zeichen für das 21. Jahrhundert, so treffen an manchen Stellen ästhetisch quasi Club-Musik und Barockoper aufeinander (in meiner musikalischen Sprache aufgelöst). Harmonisch bewegt sich die Oper durch bestimmte Felder und Schattierungen, mitunter auch kontrastierend, komplementär. Dabei gibt es ganz unterschiedliche Texturen und unterschiedliche Geschwindigkeiten. So können Flächen, Abgründe, Weiten entstehen, aber ebenso dicht gedrängte Strukturen, Rufe, Flirren oder dunkle Pulse bis hin zu rasenden Tänzen.

Die Oper ist lang: 130 Minuten. Neben der Struktur durch 12 Bilder, gibt es eine weitere Dramaturgie, die darunter liegt: die ersten 5 Bilder sind sehr dunkel, fast wie ein Tunnel, ein Blick in die Geschichte Ophelias, momentweise versuchen Stimmen, die Musik ins Helle zu bringen, aber es kippt immer wieder zurück in die Düsterkeit. Das 6. Bild ist dem Schweigen gewidmet, Hamlet und dem Chor. Das sonst als Interludium fungierende Zuspielband tritt hier während des Bildes auf, ein Rauschen, das alles übermalt und Ophelia taucht schließlich mit einer Vokalise auf und übernimmt die Bühne. Die Selbstbefreiung Ophelias beginnt quasi ab dem 6. Bild. Nach dem 6. Bild gibt es die erste wirkliche Stille in der Oper. Das 7. Bild ist dann fast heiter, bizarr, ein Spiel der Gespenster, das 8. ein Traum (der Ophelias und Laertes), im 9. Bild endlich wird Ophelias Gesang mehr und mehr vogelartig, Zeichen der Freiheit (ein großes Vogelkonzert entspinnt sich von Solist*innen, Chor und Orchester, sie ziehen sich zurück in die Natur). Das 10. Bild ist nochmals eine Rückschau: Gertrude, die vom Tod Ophelias singt, aber mit dem anschließenden Interludium, das Orchester und Elektronik ganz verschmelzen lässt, wird all das hinweggefegt. Im 11. Bild ist Ophelia allein, endlich bei sich (wie oben beschrieben). Was ist es, das sie hat überleben lassen? Ihre innere Kraft, ihr Mut und starker Wille (und etwas Glück vielleicht). Das 12. und letzte Bild ist ein Tanz, der das Leben feiert.

Die Oper ist meiner Tochter Leah gewidmet.

Und dem Andenken an meine Mutter Elisabeth Naomi Reuter z‘‘l.

Mein besonderer Dank gilt: dem Saarländischen Staatstheater, Bodo Busse, Mirko Bonné, Daniela Brendel, Martha Agostini, dem ganzen Ricordi-Team, Robert Schenke, Matthias Erb, Eva-Maria Höckmayr, Fabian Liszt, Stefan Neubert, Valda Wilson, Tutti Reuter, Christian Wollin, Mathias Kroll, Aribert Reimann, der Ernst von Siemens Musikstiftung für die Unterstützung – und nicht zuletzt: Leah, David, Elias und Jascha.

Die Oper “OPHELIA” hat mich ca. drei Jahre lang begleitet. Eine intensive Zeit. (Es war auch die Corona-Zeit und hier kann man durchaus Parallelen finden: der Tunnel, die Dunkelheit und das stückweise freikämpfen – ins Licht. Ophelia: “Frei atmen!”) Ich bin allen Beteiligten für die Wirklich-Werdung von “OPHELIA” 2023 am Saarländischen Staatstheater unendlich dankbar, es ist wahrlich ein Gemeinschaftswerk.

Sarah Nemtsov, Frühjahr 2023

Teaser Saarländisches Staatstheater
https://www.ardmediathek.de/video/wir-im-saarland-kultur/composer-in-focus-sarah-nemtsov-und-ihre-ophelia/sr/Y3JpZDovL3NyLW9ubGluZS5kZS9LVS1XSU1TXzEyODAyMS9zZWN0aW9uLzM

Kompositionsauftrag des Saarländischen Staatstheaters gefördert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung

Kompositionsauftrag des Saarländischen Staatstheaters gefördert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung

Verlag: G. Ricordi & Co. Bühnen- und Musikverlag GmbH – Berlin

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PRESSE:

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.5.2023, “Oper Ophelia in Saarbrücken: Aus der Opferrolle befreit”

[…] Nemtsov und ihr Librettist Mirko Bonné zäumen Shakespeares Schauspiel von hinten auf, wobei sie die Alternative von Hamlets Frage nach Sein oder Nichtsein in einer dritten Möglichkeitsform aufheben: im Sein zwischen Leben und Tod. Ophelias Krankenhausaufenthalt bildet den Rahmen für die eigentliche Handlung in der Geisterwelt, die sich im Kopf der Patientin abspielt. […] Umgeben werden die frisch Verstorbenen vom Schattenchor schwarz verhüllter Gestalten, der schon länger in der Unterwelt haust und die Toten des dänischen Hofes zu sich holen will. […] Ophelia dagegen findet wieder ins Leben zurück, nachdem sie ihre Geschichte mit Hamlet in einzelnen Stationen nochmals durchlebt hat. Nemtsov spaltet sie dafür in drei Stellvertreterinnen mit verschiedenen Stimmlagen auf (ein tolles Terzett von Bettina Maria Bauer, Pauliina Linnosaari und Judith Braun). Im Moment des Entschlusses zum Leben entschwinden die Ersatz-Ophelias im dramaturgisch, szenisch und musikalisch lange hinausgezögerten Höhepunkt der Oper: Gerade besuchten die drei Ophelias ihre Schwester am Krankenbett, erstickten fast an ihrer Frage nach dem „Sein oder Nichtsein“, wollen sterben, schlafen und sonst nichts. Da bewegt sich die Rekonvaleszentin und explodiert in einem durch Mark und Bein gehenden Urschrei aus der Tiefe des aufgewühlten Orchesters heraus. Jetzt ist Ophelia in der Gegenwart angekommen. Für Valda Wilson in der Titelrolle ist dies auch die Initialzündung für ein neues Singen, das sie wie stammelnd wieder entdeckt, bis sie mit großen Sprüngen in die abenteuerlichsten Höhen gelangt, zu den Vögeln, die sie in Empfang nehmen, oder auch in den Wahnsinn des normalen Lebens – eine darstellerisch wie sängerisch außerordentliche Leistung. Überhaupt schien das Produktionsteam in Saarbrücken geradezu beflügelt von der Uraufführung. Das Staatsorchester unter der Leitung von Stefan Neubert konfrontiert das Publikum mit einer höchst anspruchsvollen Musik. Sie entwickelt sich aus einem dunklen Mahlstrom, der sich langsam differenziert, in hohen Spitzen ausschlägt, sich marschartig in Bewegung setzt oder sich martialisch zusammenballt. Metallische Gefechte wechseln mit sanften, mikrotonalen Klangbändern, dazu kommen im erweiterten Schlagzeugapparat Windmaschine, Regenstäbe und Peitschen, Akkordeon, E-Gitarre, Synthesizer und ein verfremdetes Cembalo. Nemtsovs Klangehrgeiz schließt noch elektronische Zuspiele mit Geräuschen aus der Menschen- und Naturwelt ein, vor allem von Wasser, sodass manche Zuhörer schon ängstlich gen Himmel blickten. Getoppt wird das Orchestrale noch durch die 3-D-Technik, mit welcher der Schattenchor in den elektronischen Zwischenspielen aufgenommen wurde. (Lotte Thaler)

Die deutsche Bühne, 15.5.2023, “Variationen bis zum Überleben – Sarah Nemtsov: Ophelia”

Ebenso vielfältig und komplex ist Sarah Nemtsovs Klangsprache: Stimmungsbilder und Emotionen gehen Hand in Hand mit einer Musik von größter atmosphärischer Dichte, die auch Naturgeräusche integriert. Unterschiedliche stilistische Einflüsse begegnen sich hier, ohne eklektizistisch zu wirken, und formen sich zu einer unverwechselbaren musikalischen Handschrift voll übersprudelnder Energie. Von innerer Bewegung vibrierende Flächen setzt Nemtsov gegeneinander, ein anderes Mal brechen sich wilde Orchesterwogen Bahn oder es zucken grelle Blitze und verfremdete Stilzitate auf. So ist die alte Königin Gertrude zum Beispiel ein zänkischer Koloratursopran, Hamlet ist eine Sprechrolle und Horatio, der neue Mann in Ophelias Leben, kein Tenor, sondern ein Bariton. Lyrische Momente des Innehaltens finden sich dagegen kaum in dieser albtraumhaften Klangwelt, aus der Ophelia sich ins Leben zurückkämpfen muss. (Konstanze Führlbeck)

Nordwestzeitung, 17.5.2023, “Menschwerdung einer unterdrückten Frau”

Sarah Nemtsov komponiert eine äußerst intensive Musik, die die Zuhörer und Zuhörerinnen durch starke suggestive Kraft in einen Sog reißt. Düster bis aggressiv legt sie die Musik der Geister in der Zwischenwelt und im Schattenreich an. Poetisch und träumerisch wird sie in Phasen der Hoffnung. Klangfarben und Motive schaffen Orientierung im komplexen Geschehen. Ein Cembalo (mit Verfremdung) und die Besetzung eines Countertenors (Rosenstern) bezeugen eine Referenz an die Barockoper. Die elektronische Musik unserer Zeit in den Interludien trennt die 12 Bilder des Werks von einander. Quintfälle und Motivverabeitungen, Koloraturen und Parlandopassagen der Sänger knüpfen bei ganz eigener Tonsprache an Traditionen an. (Mathias Kroll)

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OPHELIA Besetzung (Saarländisches Staatstheater):

Musikalische Leitung Stefan Neubert

Inszenierung Eva-Maria Höckmayr

Bühnenbild Fabian Liszt

Kostüme Julia Rösler

Sounddesign Matthias Erb

Dramaturgie Anna Maria Jurisch

Choreinstudierung Jaume Miranda

Solist*innen:

Ophelia I (Sopran) Valda Wilson

Horatio (Bariton) Max Dollinger

Claudius (Bass) Hiroshi Matsui

Gertrude (Koloratur-Sopran) Liudmila Lokaichuk

Prinz Hamlet (Schauspieler) Christian Clauß

Polonius (Bass-Bariton Buffo) Markus Jaursch

Ophelia II (lyrischer Sopran) Bettina Maria Bauer

Ophelia III (dramatischer Sopran) Pauliina Linnosaari

Ophelia IV (lyrischer Mezzo) Judith Braun

Laertes (Alt) Melissa Zgouridi

Rosenstern (Counter) Georg A. Bochow

Der graue König (Schauspieler, stumm, wird von 4 Männerstimmen aus dem Chor “gesungen”) Alois Neu

Fortingbras (Junge im Stimmbruch) Kostyantin Matslov/Benjamin Schmidt

Das Saarländische Staatsorchester

Der Opernchor des Saarländischen Staatstheaters

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Termine:

UA 13.5.2023 Saarländisches Staatstheater Saarbrücken

weitere Vorstellungen am 19.5., 27.5, 4.6., 11.6., 24.6. und 28.6.2023

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Links

Interview Saarbrücker Zeitung

https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/saar-kultur/komponistin-sarah-nemtsov-im-interview_aid-84685695

Poly Magazin (Französisch)